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Resonanz

 

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"Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern."

Blaise Pascal, Pensées



"Ich glaube daran, dass das größte Geschenk,
das ich von jemandem empfangen kann, dieses ist:
gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden.
Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist dieses:
den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren.
Wenn das geschieht, entsteht Beziehung."

Virginia Satir
 

 

 

 



 

 




Hartmut Rosa, Professor für Soziologie in Jena und Autor des 2016 erschienenen Buches "Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung" ist überzeugt, dass wir Menschen uns zutiefst nach Resonanz sehnen.

Sein Buch hat in mir einige Resonanz ausgelöst - und angesichts der zahlreichen Diskussionen, Vorträge und Interviews offensichtlich nicht nur bei mir.

Was versteht Hartmut Rosa unter Resonanz? Er ist überzeugt: Sie zu erleben ist unverzichtbar für ein gelingendes Leben und gleichzeitig entzieht sie sich unserem Willen: Wir können sie nicht herstellen, nicht kaufen, nicht kontrollieren. Was also tun? Können wir überhaupt etwas tun?

Hier erläutere ich vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen seine Resonanztheorie:

 

Der Wind raschelt im Blätterwerk des Bambus in unserem Garten und weckt im Halbschlaf meiner Mittagspause ein vergessenes Daseinsgefühl aus Kindertagen. Es ist nicht die Art Erinnerung, die sich einstellt, wenn ich meine Aufmerksamkeit gleich einem Fernrohr bewusst auf vor langer Zeit Erlebtes richte: "Wie war das damals? Was ist gewesen?". Nein, dieses Gefühl ist durch das Rascheln der Blätter unwillkürlich wachgerufen worden, in all seiner Fülle und Intensität und bringt in seinem Schlepptau vage Bilder aus einer Zeit voll Sommer, Spiel und Sonnentagen: Erinnerungen aus meiner frühen Kindheit am Meer in den Dünen, in denen der kräftige Atem der Nordsee in unseren Sommerferien so gerne mit dem Strandhafer spielte.

Ich fühle mich jetzt für ein paar Augenblicke wieder wie damals, umgeben von raschelnden Pflanzen, die zu flüstern scheinen: "Alles ist gut und geborgen". Es ist eine Zeit, in der mein Verstand noch nicht genügend geschult ist, Zweifel anzumelden.
 

Für mich ist diese Erinnerung ein treffendes Beispiel für das Phänomen der Resonanz, über das Hartmut Rosa, Professor für Soziologie in Jena, in seinem Buch "Resonanz. Soziologie einer Weltbeziehung" schreibt[1]. Er kommt darin zu dem Schluss, dass wir Menschen eine tiefe Sehnsucht nach Resonanz mit der Welt haben - nach etwas, das auf unsere Bewegungen und unser Bewegtsein mit eigener Stimme antwortet, uns ein antwortendes Gegenüber ist. Das Erleben von Resonanz - so seine Überzeugung - erfüllt überhaupt erst unser Leben und macht es lebenswert. Mit diesem tiefen Resonanzbedürfnis können wir uns erklären, warum Kinder lieber stören und dafür bestraft werden, wenn sie schon nicht auf angenehmere Weise wahrgenommen werden. Lieber ein Störenfried als ein Niemand. Lieber eine Antwort als gar keine Antwort.
 

Hineingeworfen in die Welt stellt sich für uns die bange, die existentielle Frage, welche die britische Rockband Pink Floyd in ihrem gleichnamigen Song stellt: "Is there anybody out there?" - Ist da wer, außer uns selbst? Ist die Welt kalt, starr und stumm, ungeachtet dessen, was uns bewegt? Oder ist da doch jemand oder etwas Antwortendes, schwingt mit uns mit und schenkt uns auf diese Weise die Erfahrung des Verbundenseins mit etwas Anderem als uns selbst? Das mag ein Mensch oder Tier und sogar raschelnder Strandhafer in einer Dünenlandschaft sein.
 

Mit der Urerfahrung tiefer Resonanz kommen wir auf die Welt. Am Anfang unseres Lebens wird sie uns im Leib unserer Mutter geschenkt, umgeben von wärmenden, nährenden Biorhythmen im synchronen Zusammenspiel mit unseren eigenen. Und nachdem wir das Licht der Welt erblickt haben, bieten hoffentlich viele wohlgesonnene Menschen Resonanzräume für unser werdendes "Selbst": Menschen, die uns in unsere offenen, staunenden Augen schauen und uns lebendige Spiegel sind, in denen wir - wenn wir das Glück haben - uns finden und angenommen fühlen dürfen, fürsorgliche Menschen, die schneller als wir selbst ahnen was uns fehlt und was uns erfüllt, weil wir uns selbst noch nicht kennen, geschweige denn benennen können, was unser Herz begehrt.
 

Was ist Resonanz?

Wir alle kennen das Phänomen der Resonanz aus der Musik. Wir schlagen die Saite einer Gitarre an, und dank ihres hölzernen Korpus mit seiner Öffnung verstärkt dieser die Schwingungen der angeschlagenen Saite und reichert sie an mit dem warmen Eigenklang des Holzes.

Hören können wir die so erzeugten Schallwellen wiederum nur, weil sie unser Trommelfell in Schwingung versetzen, sodann mittels der feinen Mechanik ineinandergreifender Gehörknöchelchen in das Innenohr übertragen werden, um dort je nach Frequenz unterschiedlich empfängliche Haarzellen in der Ohrschnecke zu bewegen und damit die mit ihnen verbundenen Nervenfasern zu erregen. 

Entsprechend dem Resonanzprinzip geht es im Gehirn dann weiter: Unzählige Nervenzellen, die sich aufgrund früherer Erfahrungen zu komplexen, weitgefächerten neuronalen Netzen verschaltet haben, resonieren auf ihre eigene Weise mit eintreffenden neuronalen Impulsen, d.h. sie werden aktiv, wenn diese jenen Impulsmustern, durch die ihre Vernetzung damals geprägt wurden, ähneln. Dabei scheinen "synchronisierte Schwingungsprozesse das verknüpfende Prinzip der Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt" zu sein[2].

Das bedeutet zum Beispiel: Jemand sagt "Oma" und schickt ein relativ simples Schallwellenmuster in den Raum, wo es irgendwann auf unser Trommelfell trifft. Von dort aus kann es sich - sofern unsere Oma in unserer Kindheit für uns bedeutsam war - zu immer komplexeren Erregungsmustern in uns aufschwingen, bis schliesslich Erlebnisse und Gestimmtheiten wieder in uns lebendig werden, die wir mit unserer Oma einmal erlebt haben. 
 

Kurz, unser Gehirn ist aus Sicht der Resonanztheorie - und spätestens seit Entdeckung der Spiegelneuronen auch aus neurowissenschaftlicher Sicht - ein unfassbar komplexes und empfindsames Resonanzorgan. Anders formuliert: es ist ein Beziehungsorgan, wie es Thomas Fuchs bereits im Titel seines Buches "Das Gehirn - ein Beziehungsorgan" zum Ausdruck bringt[3].
 

Resonanz definiert Hartmut Rosa als ein Geschehen, bei dem mich etwas in meinem Wesen berührt und mich zu einer Antwort motiviert. Diese Antwort kann rein emotional - ein Gefühl, eine Gestimmtheit - oder auch eine Handlung sein: Ich höre Musik und beginne zu tanzen. Jemand beleidigt mich, ich werde wütend und blaffe zurück.
 

Resonanzgeschehen beschränkt sich also nicht auf das, was uns behagt. Resonanz bedeutet keineswegs Konsonanz, nicht Einklang und auch nicht Echo, sondern eine individuelle Antwort, die demjenigen, der mitschwingt, eigen ist. Somit birgt sie auch immer ein Überraschungsmoment: Welcher Art wird die Resonanz sein, und wird sie überhaupt geschehen?

Sind wir nicht berührt, schwingen wir nicht mit. Wir bleiben unverbunden. Uns lässt etwas kalt. In uns bleibt es stumm. Aus resonanztheoretischer Sicht sind damit zwei wesentliche Pole beschrieben, zwischen denen sich alles Leben abspielt: mitschwingen versus stumm sein. Verbunden versus entfremdet sein.

Befremden kann uns auch die Reaktion eines Menschen - so sehr, dass wir uns abgestoßen fühlen und dies auch zum Ausdruck bringen. Zum Beispiel, wenn wir im guten Glauben, wir selbst seien gemeint, zu etwas eingeladen werden, und später feststellen, es ging gar nicht um uns, sondern wir wurden instrumentalisiert, wir waren nur Mittel zum Zweck.
 

Instrumentalisierung ist ein weiterer wichtiger Begriff in der von Hartmut Rosa formulierten Resonanztheorie, denn dieser Begriff beschreibt den Versuch des Menschen, sich über sein Handeln mit Werkzeugen unterschiedlichster Art die Welt verfügbar zu machen, sie entsprechend seinen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten und zu kontrollieren. Wir können also zwei Grundformen der Weltbeziehung unterscheiden: Entweder ich manipuliere und kontrolliere Materie und Lebewesen, versuche sie subtil oder offen aggressiv meinem Willen zu unterwerfen, mache sie zum Objekt meiner Handlungen oder ich trete in Dialog, nicht wissend, ob wir tatsächlich Resonanz erleben werden, miteinander schwingen, einander gewinnen und uns somit in einem Gemeinsamen finden können. Das Gemeinsame können gleiche Werte, gleiche Vorlieben, gleiche Erfahrungen, gleiche Zukunftsträume sein. In diesem Fall ist der Andere nicht Objekt meiner (Be-)Handlungen, sondern ich würdige ihn oder sie als selbstbestimmtes Wesen (Subjekt).
 

Nicht dass die instrumentelle Beziehung zur Welt an sich ein Problem wäre. Im Gegenteil: Unsere ganzen technischen Errungenschaften, ohne die unser heutiges Leben nicht denkbar wäre, sind ohne die Kunst, mit immer differenzierten Werkzeugen und immer besserer Kenntnis und Beherrschung der Naturkräfte gar nicht möglich. Zum Glück ist heute in der modernen Medizin sehr viel mehr machbar als früher - beispielsweise dank wissenschaftlicher Errungenschaften die Transplantation von Organen und die Durchführung komplexer, früher nicht für möglich gehaltener Gehirnoperationen, um beispielsweise Gehirntumore zu entfernen, die zuvor mit Hilfe bildgebender Verfahren wie der Magnetresonanztomographie geortet wurden. Ohne die Erfindung des Buchdrucks hätte ich nicht das inspirierende Buch von Hartmut Rosa lesen können und ohne Computertechnologie nicht in dieser Form meine Resonanz auf sein Buch teilen können.
 

Das Problem ist vielmehr das aus der Balance geratene Verhältnis zweier sehr unterschiedlicher Formen der Weltbeziehung: die stumme und die resonante Weltbeziehung.

Die stumme Weltbeziehung ist jene der instrumentellen, d.h. technisch-rationalen Vernunft, die das Andere zum Objekt erklärt und somit verdinglicht, und selbst das zu verdinglichen versucht, was sich ihrem Zugriff im Wesen entzieht - zum Beispiel die Liebe eines Menschen. Wird Liebe nicht mehr als ein spontanes Geschehen, als eine von niemandem zu kontrollierende Herzensregung wahrgenommen, sondern als etwas, das man glaubt, besitzen und einfordern zu können, endet dieser Versuch früher oder später im Verstummen der Liebe.

Diese Unterscheidung der beiden möglichen Formen der Beziehung (instrumentell oder resonant) sind nicht nur in privaten Beziehungen, sondern auch in der Führung von Menschen in Organisationen von grosser Bedeutung.

 

Führung durch Beziehung und Instrumente 
 

Führung findet grundsätzlich auf zwei Ebenen statt: Die Ebene der Beziehung und die Ebene der Instrumente. Keine der beiden Ebenen kann die andere ersetzen. Wenn die Beziehung nicht stimmt, z.B. weil kein Vertrauen, keine Wertschätzung, kein Verstehen und Interesse am Anderen da ist, kann sich die Wirkung der angewendeten Führungsinstrumente nicht entfalten - zum Beispiel wird man mich mit einem noch so gut strukturierten Gespräch mit klug gestellten Fragen nicht gewinnen können, wenn ich meinem Gesprächspartner nicht abnehme, dass es ihm auch um mein Wohl geht.

Umgekehrt kann auch eine vertrauensvolle, tragfähige Führungsbeziehung nicht ihr volles Potential entfalten, wenn nicht mit Hilfe von gut strukturierten Gesprächen konkrete Ziele vereinbart werden, begrenzte Ressourcen nicht effizient eingesetzt werden und die Arbeitsprozesse schlecht definiert sind.

Die Ebene der Beziehung wird auch gerne "Leadership" genannt, da es hier um die sinnstiftende und motivierende Führung von Menschen geht. Die Ebene der Instrumente wird häufig als "Management" bezeichnet[4].
 

Wenn wir Menschen für eine Sache gewinnen und dazu einladen wollen, ihr Bestes hierfür zu geben (Lebenszeit und Energie), dann ist beides wichtig: eine vertrauensvolle Führungsbeziehung, die hoffentlich Resonanzen ermöglicht und geeignete Instrumente, welche dieser Beziehung und einer gemeinsamen Sache dienen.
 

 



 

Stumme und resonante Beziehungsformen in Politik und Gesellschaft 

Stumme und resonante Beziehungsformen spielen eine ebenso grosse Rolle in der Politik. Natürlich sind instrumentelle, stumme Einflussnahmen auf Wirtschaft und Gesellschaft mit Hilfe von Gesetzen und beispielsweise Instrumenten der Steuerpolitik unerlässlich. Sie können jedoch in der demokratischen Führung eines Landes nicht die unverzichtbaren Resonanzräume ersetzen, in denen Dialog mit den Menschen stattfindet, der auch als solcher von den Bürgern wahrgenommen wird. Menschen, die sich in ihren vitalen Interessen nicht mehr gehört fühlen, resignieren und werden empfänglich für populistische Heilsversprecher jeglicher Couleur. Wenn Resonanzräume für die dialogische Aushandlung vielfältiger Interessen nicht mehr gegeben und genutzt werden, ersetzt bald Einfalt die Vielfalt.
 

Hartmut Rosa diagnostiziert eine zunehmend besorgniserregende Entwicklung in den Lehr- und Pflegeberufen durch eine überbordende instrumentelle Steuerung mittels systematischer Kostensparprogramme und schreibt hierzu:

"Wenn insbesondere in den Pflege- und Lehrberufen die Burnoutraten sehr hoch (und signifikant höher als in anderen Bereichen) sind - einige Studien gehen davon aus, dass bis zu 30 Prozent der hier Beschäftigten gefährdet sind -, so lässt sich dies meines Erachtens schlüssig nur so deuten, dass hier das 'Material', das heisst die zu Pflegenden und die zu Unterrichtenden, von sich aus starke Resonanzerwartungen entwickeln und oft auch artikulieren. In jedem Blick eines Kranken oder eines Kindes liegt eine Resonanzaufforderung; und mehr noch: ohne Resonanzbeziehungen lässt sich weder adäquat pflegen noch angemessen erziehen. Nicht nur Kinder, auch Kranke (und Alte und Obdachlose) wollen gesehen, gehört, berührt werden; und sie erwarten Antworten, nicht bloss Behandlungen. Sind die Arbeitsbeziehungen dann so beschaffen, dass diese Resonanzerwartungen ebenso wie die eigenen Ansprüche der Arbeitenden nicht erfüllt werden können, wird ein Burnout in dem Masse wahrscheinlicher, wie das Einnehmen einer zynischen Haltung (gegenüber den Klienten und Patienten) schwerer fällt."[5]
 

Resonanz ist keine Eigenschaft und auch kein Gefühl, sie ist eine Beziehungsqualität zwischen zwei Wesen - oder technisch gesprochen: zwischen zwei Systemen. Sie müssen beide geschlossen genug sein, um überhaupt schwingen zu können und offen genug sein, um für Schwingungen überhaupt empfänglich zu sein. Ein Gitarrenkörper aus Stahlbeton wäre ebenso nutzlos wie einer, der bei den leisesten Schwingungen zu Staub zerfallen würde. Nur irgendwo zwischen diesen absoluten Extremen ist Leben möglich.
 

Im gegenseitig ergänzenden Zusammenspiel beider Weltbeziehungen entfaltet sich ihr volles Potential: Das Ziel der stummen, instrumentalisierenden Weltbeziehung ist das Herstellen von Dingen - zum Beispiel den Resonanzkörper eines Musikinstrumentes. Etwas soll funktionieren, und zwar auf zuverlässige Weise. Und wenn das gelingt, kann die Musikerin auf der Bühne sich auf ihr Instrument verlassen und hoffentlich die Musik darauf spielen, mit der sie die Herzen ihrer Zuhörerschaft berührt. Die geschaffenen Instrumente dienen der resonanten Beziehung, in dem sie ihre Spielarten noch erweitert.
 

Dieses Zusammenspiel ist laut Hartmut Rosa in unserer heutigen modernen Gesellschaft jedoch immer häufiger gestört. Die instrumentalisierende, stumme Weltbeziehung, die Objekte herstellen, manipulieren, kontrollieren, gestalten will, dient immer seltener - so seine kritische Diagnose der modernen Gesellschaft - der resonanten Weltbeziehung, sondern droht zum Selbstzweck zu verkommen. Im Bild gesprochen: wir neigen dazu, Musikinstrumente anzuhäufen, sie zu besitzen, anstatt mit ihnen zu spielen und uns gemeinsam an Musik und Leben zu erfreuen. Die Triebfeder und wesentliche begünstigende Rahmenbedingungen für dieses Verhalten sieht er in einer immer turbulenteren Welt, die für uns immer unvorhersehbarer wird, und uns somit dazu verführt, uns für alle Eventualitäten zu wappnen, zu horten, vorzubereiten, anstatt uns lebendigen, resonanten Beziehungen hinzugeben und unser Leben in diesem Sinne zu leben. Was meint er mit resonanter Beziehung?
 

Die resonante Weltbeziehung degradiert den Anderen nicht zum Objekt eigener Manipulationsversuche, sondern würdigt ihn als gleichwertiges Subjekt und ist offen für eine Begegnung im Dialog - offen für gemeinsames Lernen und Entwicklung. Gelingt dies, gehen wir beide verändert auseinander. Wir haben voneinander gelernt, einander bewegt, berührt, mit Hilfe des Anderen auch uns selbst mehr kennengelernt.
Die Haltung hierzu ist eine Gewährende, eine Nährende, eine würdevoll Herausfordernde: etwas darf sich entwickeln, sein Potential entfalten, Lebendiges wachsen - durchaus in würdevoller Auseinandersetzung mit dem, was mich und Dich bewegt. Würdevoll heisst, im Streitfall scheuen wir uns nicht, einander zuzumuten - auch das ist Resonanz - jedoch nicht auf Kosten der Würde des anderen. Wir muten einander zu, weil wir es einander wert sind - und der Klarheit hinsichtlich dessen, was jeden bewegt, zuliebe.
 

Zur Erinnerung: Resonanz ist nicht mit Gleichklang oder gar Gleichschaltung zu verwechseln. Letzteres bezeichnet Hartmut Rosa als Resonanzsimulation, in der die eigene Stimme eben nicht mehr zur Vielfalt beiträgt, sondern der Einheit zuliebe verstummt.

Wenn wir schon bei Vielfalt sind: Eine leidenschaftliche Auseinandersetzung in einer Arbeits- oder Liebesbeziehung kann als intensives Resonanzgeschehen betrachtet werden, da - sofern noch um einen gemeinsamen Nenner unter Wahrung der Würde und Einzigartigkeit eines Jeden auf Augenhöhe gerungen wird - beide (Konflikt-)Partner verändert aus diesem Gespräch herausgehen. Man ist sich eigener Werte und Bedürfnisse, aber auch die des Anderen bewusst(er) geworden, man hat sich näher kennengelernt, vielleicht sind einem die Augen geöffnet worden und die Haltung zu etwas und das Verständnis dessen, um das gestritten und gerungen wurde, hat sich verändert. Kurzum: Es hat eine Transformation - oder wie Hartmut Rosa sagen würde - eine Anverwandlung stattgefunden.

Nicht so ist es jedoch in einer aggressiven Auseinandersetzung, in der die Beziehung nicht mehr durch ein Ringen um ein Gemeinsames charakterisiert ist, sondern ein Kampf um Dominanz ist, bei dem durch Manipulation, Zwang, verbale oder körperliche Gewalt oder eine kalte Schulter ("Schneiden") jemand genötigt wird, nachzugeben oder sich gar zu unterwerfen.
 

Resonanz - so Hartmut Rosa - kann sich als Beziehungsqualität nur dort einstellen, wo beide mit eigener Stimme sprechen können, und diese eigene Stimme kann nur in Freiheit zum Klingen kommen. Freiheit heisst, dass der Andere dennoch stumm bleiben, sich nicht berühren lassen darf.

Ich kann jemandem unter Androhung negativer Konsequenzen - versteckt manipulativ oder offen aggressiv, oder in dem ich Belohnungen in Aussicht stelle - vielleicht Worte oder Handlungen abringen. Jedoch wird es niemals möglich sein, eine freiwillige Antwort zu erzwingen. Das ist ein logischer Widerspruch. Eine resonante Beziehung eingehen wollen heisst also, in Kauf nehmen, dass die andere Seite (oder Saite) stumm bleibt, nicht schwingt. In unserem Sprachgebrauch zeigt sich, dass wir um diese Dinge intuitiv wissen: So sagen wir, wenn wir uns nichts zu sagen haben: "Wir haben eben nicht die selbe Wellenlänge."
 

Wozu der resonanztheoretische Überbau? Immerhin hat Hartmut Rosa fast achthundert Seiten diesem Thema gewidmet. Ich finde, nicht umsonst. Die von Hartmut Rosa so sorgfältig formulierte Resonanztheorie ermöglicht uns ein sehr viel differenzierteres Verständnis davon, worauf es ankommt, wenn wir Menschen erreichen wollen - und wie wir unsere Grenzen und unser Scheitern erklären können, ohne in dumpfe Resignation verfallen zu müssen.
 

Trost können wir zum Beispiel darin finden, dass Resonanz nicht kontrollierbar, nicht einfach hergestellt werden kann. Wir können nur Rahmenbedingungen schaffen, die aller Erfahrung nach die Wahrscheinlichkeit für ein Resonanzerleben erhöhen. Wenn sich Resonanz dann doch nicht, oder gerade deshalb nicht einstellt - zum Beispiel beim sorgfältig zubereiteten Abendessen in romantischem Ambiente - müssen wir nicht grundsätzlich an uns selbst, am Anderen oder an unserer Beziehung zweifeln. Resonanz entzieht sich unserem Willen. So wie ein scheues Reh, das wir gerne sichten würden. Wir können uns still an den Rand einer Lichtung setzen, um uns und ihm eine Chance zu geben. Manchmal kommt es, manchmal nicht. Es hat seinen eigenen Willen. Da haben wir nichts zu melden. Erlegen können wir es natürlich. Aber das hat dann nichts mehr mit Resonanz zu tun. Dann habe ich schlichtweg den Beziehungsmodus gewechselt: nun ist es stumm. Für immer, zumindest was das Reh angeht.
 

Auf der anderen Seite gibt es die unerwarteten Resonanzphänomene, die wir trotz aller Widrigkeiten plötzlich erleben durften und uns nachher kopfschüttelnd fragen lassen, wie in dieser Winterkälte nur der Funke überspringen, das Reh uns über den Weg laufen konnte. Das Gebot der Stunde: Freu dich drüber und nimm auch dieses nicht persönlich.

Übrigens:

Wir können ohnehin nicht ständig in Resonanz leben - praktisch nicht, aber auch rein theoretisch nicht. Warum? Resonanz wird überhaupt erst möglich vor dem Hintergrund einer stummen Welt, denn Resonanz ist - wie bereits ausgeführt - nur möglich zwischen halboffenen Systemen: ich muss genügend geschlossen d.h. eigen genug sein, um nicht mit allem unterschiedslos mitzuschwingen - denn sonst würde ich mich verlieren und hätte keine Identität mehr. Wenn der Gitarrenkörper unterschiedslos mit allem mitschwingen würde, könnte ich mein Gitarrenspiel vergessen. Es würde untergehen im Lärm sämtlicher verstärkten Geräuschen im Raum: Mein Atem, Herzschlag, Gespräche, Kühlschrankbrummen, der durch das Fenster dringende Verkehrslärm, Vogelgezwitscher, das Knistern der Flammen am Lagerfeuer etc. Ein Resonanzkörper ist also immer nur für ganz bestimmte "Weltausschnitte", wie Hartmut Rosa es ausdrückt - empfänglich, für andere nicht. Diese Selektivität bedingt erst die Resonanzfähigkeit - und Identität. Identität heisst, einen Unterschied machen. Ich bin dieses - und jenes nicht. Ich bin empfänglich für dieses - und für jenes nicht.
 

Hüten wir uns vor der Idee, Resonanz sei eine Fähigkeit, die man schulen und somit doch wieder verfügbar machen könnte. Wie ebenfalls bereits erwähnt, beschreibt Resonanz die Qualität einer Beziehung und nicht die Eigenschaft eines Dinges oder einer Person. Nicht die Saite ist resonant und auch nicht der Gitarrenkörper. Es kann jedoch zu Resonanzphänomenen zwischen beiden kommen. Und dann geschieht sie in beiden Richtungen: Der Körper kann auf die Schwingungen der Saite reagieren, aber auch die Saite auf die Schwingungen des Körpers. Genauso gilt das für unsere Beziehung zu Menschen, Dingen oder unserer Arbeit. Hierfür bedient sich Hartmut Rosa eines schönen Vergleichs mit zwei Stimmgabeln: Wir können erste Stimmgabel oder zweite Stimmgabel sein, d.h. der Impuls für ein Resonanzerlebnis kann von mir aus oder von Dir aus gehen.
 

Wenn schon Resonanzphänomene selbst nicht herstellbar sind, so können wir doch Resonanzräume schaffen, in denen die Voraussetzungen für Resonanz gegeben sind, welche es etwas wahrscheinlicher machen, dass es zu Resonanzphänomenen kommen kann. So sehe ich einen wesentlichen Teil meiner Arbeit mit Menschen in Coaching, Seminaren und Workshops darin, genau solche Resonanzräume anzubieten, ohne die Garantie geben zu können, dass Resonanz tatsächlich stattfinden wird. Würde ich das dennoch garantieren wollen, wäre das wieder ein Versuch, Resonanz zu verdinglichen und zum Verkauf anzubieten. Dies widerspricht der grundsätzlichen Unverfügbarkeit der Resonanz, die nicht mit einem Werkzeug beliebig hergestellt werden kann, sondern nur entstehen kann, wenn grundsätzlich ähnliche Schwingungspotentiale gegeben sind. Natürlich kann ich versuchen, Menschen einzustimmen, durch gewählte Räume, Ansprachen, Methoden. Jedoch sind solchen Wirkungen Grenzen gesetzt durch den "Persönlichkeit" genannten Resonanzkörper, den die Menschen mitbringen. Da kann niemand wie ein Gitarrist erst einmal Hand anlegen, und die Saiten stimmen. Und selbst die können reissen oder erschlaffen, wenn man's übertreibt. Und dann ist es wieder stumm.

In diesem Sinne erscheinen mir Resonanzphänomene wie Seifenblasen: Kaum greifen wir nach ihnen, platzen sie auch schon.

Heute bleibt der Bambus stumm, es weht kein Wind. Und selbst wenn - würde es helfen, mich unter den Bambus zu legen und zu lauschen, um wieder dieses Daseinsgefühl in dieser Fülle zu erleben? Berichten kann ich noch davon, aber der Zauber des unmittelbaren Erlebens ist verblasst. Schade, sagt eine Seite in mir. Eine andere weiss, es kann jederzeit etwas Neues, Unerwartetes, vielleicht sogar Bezauberndes geschehen. Das Einzige was ich heute tun kann: von Sehnsucht genährte Vorstellungen, wie etwas zu sein hat, loslassen und bereit sein, das Unerwartete zu erleben und nicht zu verpassen, wenn es vorbeikommt. Auch wenn es manchmal weh tut. Dies ist mir der Zauber des Lebens allemal wert. Das heisst: mitunter. Ich übe noch.


Ingo Heyn

Mai 2018


P.S: Was es bedeutet, mit uns selbst in Resonanz zu sein, und was das mit intelligenter Intuition zu tun hat, erläutere ich hier: Sich selbst vertrauen - oder: Gibt es dumme Intuition und hier: Wege zu der Quelle unserer intelligenten Intuition

 


 

Literatur 
 

  • Fuchs, Thomas: Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, 5. Auflage, 2017
  • Lauterwasser, Alexander: Schwingung - Resonanz - Leben. AT Verlag 2015
  • Rosa, Hartmut: Resonanz - Eine Soziologie der Weltbeziehung. 7. Auflage, 2017

 

 

 

 Fussnoten 


 

  1. Rosa, Hartmut: Resonanz - Eine Soziologie der Weltbeziehung. 7. Auflage, 2017
     
  2. Thomas Fuchs, zitiert nach ebd. Seite 250
     
  3. Fuchs, Thomas: Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Kohlhammer, 5. Auflage, 2016 siehe auch Damasio Antonio: Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München, 1997, zitiert nach ebd., Seite 250
     
  4. siehe zum Beispiel: Kotter, John P. "A Force for Change - How Leadership Differs From Management, 1990."
     
  5. Rosa, Hartmut: Resonanz - Eine Soziologie der Weltbeziehung. 7. Auflage, 2017 Seite 400