Direkt zum Inhalt

Brauchen wir Intuition - und falls ja, welche?

 

Nr. 20 <<   Essay Nr. 21  >> Nr. 22

 

 


Alles, was zählt, ist die Intuition. Der intuitive Geist
ist ein Geschenk und der rationale Geist ein treuer Diener.
Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener
ehrt und das Geschenk vergessen hat.
Albert Einstein

 

 



 

 

 

Intuitiv traf ich die falsche Entscheidung.

Ich traf sie an einem Montagmorgen im Rohbau eines Automobilkonzerns. Dort jobbte ich für zwei Monate in meinen Semesterferien am Fließband. Meine Aufgabe war es, wulstige Schweißnähte an den Kotflügeln abzuschleifen: pro Karosserie einmal hinten links und einmal hinten rechts. Zweiundneunzig Stahlskelette zogen – aufgehängt an einem Förderband wie Gondeln - jeden Arbeitstag an mir vorbei. Eine nach der anderen schwebten sie an meinen Arbeitsplatz und blieben über einer Hebebühne baumelnd stehen. Dann hatte ich einen Knopf zu betätigen, die Hebebühne hob sich, brachte mein Werkstück in eine stabile Position und mir blieben wenige Minuten, meine Arbeit zu verrichten. Dann drückte ich wieder den Knopf, die Hebebühne senkte sich und die nächste Karosserie schwebte ein. Bis ich an jenem Montag morgen intuitiv die falsche Entscheidung traf.

Zuerst hörte ich ein Knirschen hinter mir. Anfangs klang es noch trügerisch harmlos, dann wurde es ein Ächzen und Schaben. Dazu mischte sich der Klang von splitterndem Holz und metallischen Schlägen. Ich fuhr herum und sah, wie sich das Skelett der Mercedes-S-Klasse zwischen halb hochgefahrener Hebebühne und Förderband erst verkeilte und dann verformte. Es war einer jener Momente in meinem Leben, in denen die Zeit aus Respekt vor dem Ungeheuerlichen, das mir gerade widerfährt, stehen zu bleiben scheint. Die Zeit blieb aber nicht stehen. Dafür endlich das Förderband. Die Hebebühne war halb aus ihrer Verankerung im Holzboden gerissen, darüber die zerknüllte Karosserie, verflochten mit den verbogenen Transportgabeln. Der türkische Kollege, der die selben Arbeiten wie ich an einem parallel verlaufenden Förderband zu erledigen hatte, schaute mich grinsend an. Was war geschehen? Ich hatte den Knopf zu früh gedrückt und so versperrte die hochfahrende Hebebühne den Weg für die hineinschwebende Karosserie. Diesen verfrühten Handgriff hatte ich mir angewöhnt, nachdem ich ein paar Tage zuvor herausgefunden hatte, wie ich im fordernden Takt der Produktion wertvolle Sekunden einsparen konnte. Eine Lichtschranke sorgte nämlich dafür, dass sich die Bühne erst dann hob, wenn die Karosserie in einer sicheren Position war – bis diese ausfiel.

An jenem Montagmorgen war mir schon bald aufgefallen, dass die Hebebühne sich anders als gewohnt nun zu jedem Zeitpunkt betätigen ließ. Techniker hatten – so erfuhr ich später – nach Wartungsarbeiten am Wochenende vergessen, den Sicherheitsmechanismus wieder einzuschalten. Ich musste also achtsam bleiben, unterschätzte jedoch die Macht der Gewohnheit und Müdigkeit, mit der ich zu Beginn der neuen Frühschichtwoche noch zu kämpfen hatte, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis ich ihr erlag. Eine dreiviertel Stunde lang ging nichts mehr. Solange brauchten die Techniker, um das Stahlknäuel heraus zu fräsen, die Hebebühne zu entfernen und das Förderband wieder zum Laufen zu bringen.

War die verfrühte Betätigung des Schalters eine intuitiv falsche Entscheidung?

Intuitiv Handeln bedeutet für mich, einem Gefühl oder Impuls zu folgen, dessen Ursprung ich im Moment des Handelns nicht rational erklären kann – sei es, weil ich nicht die Zeit für rationale Erwägungen habe, sei es, weil ich gar nicht mehr durchschaue, welche zahlreichen Erfahrungen sich zu einem Handlungsimpuls verdichten, der sich in diesem Moment einfach "richtig" anfühlt. Ohne intuitives Handeln käme ich nicht weit. Es erlaubt mir schnelles und angemessenes Reagieren in komplexen Situationen – vorausgesetzt, ich bin mit ihnen hinlänglich vertraut. Das kann bei einer plötzlichen Bewegung am Rand meines Gesichtsfeldes der intuitive Tritt auf das Bremspedal sein, ohne dass ich schon weiß, ob es der Ball eines nachspringenden Kindes oder ein vorbeifliegender Vogel ist. Das kann ein ungutes Gefühl in einer Verhandlungssituation sein, in der rational betrachtet alles für eine Unterschrift unter dem Vertrag spricht, aber irgend etwas in mir sträubt sich. Aber was sträubt sich da? Ist es ein Gefühl, das ich ernst nehmen sollte, ohne zu verstehen, woher es rührt, oder soll ich darüber hinweg gehen und mir einen "Ruck" geben, damit die Sache endlich vom Tisch ist?

Damit bin ich in einer ähnlichen Situation wie der Kapitän eines großen Schiffes: Der direkte Blick auf die offene See mag beruhigend sein, aber sein Echolot erfasst Meeresgrund, der dem bloßen Auge verborgen bleibt und versorgt ihn mit Informationen auf seinem Bildschirm, die er hoffentlich zu deuten gelernt hat.

So auch in meinem Alltag: Bewusst mag ich Beruhigendes wahrnehmen und erhalte ein ergänzendes Echo aus meinem Innern. Jedoch bildet es sich nicht auf einem Bildschirm ab, sondern teilt sich mir vielfältig mit: als ein Gefühl, eine Assoziation, ein Bild, eine Erinnerung an frühere Erfahrungen, oder als Handlungsimpuls. Mal kaum wahrnehmbar, mal erstaunlich stark. Wie soll ich solch ein Echo – diese Resonanzen und Dissonanzen - aus meinem Innern deuten und nutzen? Wie differenziert nehme ich sie wahr? Ist der Anflug von Angst ein Störimpuls, den ich ignorieren sollte (denn: "nur wer wagt gewinnt!"), oder ein wichtiger Hinweis auf eine noch nicht bewusst erkannte Gefahr? ("Hätte ich doch nur damals auf mein Gefühl gehört. Mir war doch schon damals mulmig zumute").

Ob und wie ich mein Echolot nutze hängt auch davon ab, welches Verhältnis ich zu mir habe: Wie ernst nehme ich mich – und das, was für mich auf dem Spiel steht? Bin ich es mir wert? Schätze ich mich genug, ist die Sache mir wichtig genug, so dass ich in einer Situation den Mut habe zu sagen, "ich weiß noch nicht genau warum, aber irgend etwas stimmt hier nicht für mich" oder folge ich voreilig einer rational schlüssig klingenden Argumentationskette, in der mein Gefühl nur stören würde?

Zurück zu meiner Frage, ob ich falsch lag mit meiner Intuition. Ja. Ich traf damals intuitiv eine falsche Entscheidung. Intuitiv war sie deshalb, weil ich eine rationale Schlussfolgerung ("Ich könnte Zeit sparen, in dem ich schon früher den Knopf drücke") zu einem automatisierten Verhaltensmuster werden ließ, das für mich vorteilhaft war. Zunächst einmal. Falsch wurde dieses intuitive Verhaltensmuster erst ab jenem Moment, als der Kontext sich änderte: Der Sicherheitsmechanismus wurde abgeschaltet.

Falsches intuitives Handeln ist kein Einzelfall. Intuitiv essen viele Menschen gerne Süßes. Evolutionsbiologen glauben zu wissen warum: Die Evolution begünstigte jene, die zugriffen, wenn es Kohlehydrate gab, denn die Zeiten konnten karg sein, und Supermärkte mit ihrem Überangebot an Zuckerwaren waren noch nicht erfunden. Die steigende Zahl der Erkrankungen wie Diabetes zeigen, wie ursprünglich richtiges Verhalten durch Änderung der Verhältnisse plötzlich zur Gefahr wird.

Ob ein intuitives Verhalten richtig ist, hängt also davon ab, ob es in dem Kontext, in dem es jetzt gezeigt wird, immer noch so nützlich ist, wie in jenem, in dem es einmal erfunden und nun in Fleisch und Blut übergegangen ist – ein Phänomen übrigens, das ich in der Begleitung von Veränderungsprozessen häufig erlebe: Der Kontext ändert sich durch neue Techniken, Prozesse, Strukturen, und die Menschen erfahren, dass ihr bisher intuitiv richtiges Verhalten plötzlich nicht mehr Probleme löst, sondern welche schafft.

Bisher habe ich nur eine Quelle meiner Intuition angesprochen: Unbewusst gewordenes Wissen, das sich mir als Handlungsimpuls mitteilt, ohne dass ich immer genau erklären könnte, warum und wieso. Es fühlt sich einfach richtig an.

Es gibt Phänomene der Intuition, die einer anderen Quelle entspringen. Das unerwartete Gefühl in einer Situation, in der erst einmal alles klar scheint, doch etwas lässt mich innehalten und macht mich wach. Prüfend frage ich mich: "Irgend etwas stimmt hier nicht, aber was?" oder stelle beunruhigt einen bereits gefassten Plan in Frage. Ich zögere nach Berichten eines Flugzeugabsturzes, bevor ich meinen Flug für eine Reise buche. Woher kommt dieses Zögern? Ist es nur eine irrationale Angst vor dem Fliegen – irrational deshalb, weil der nüchterne rationale Blick auf die Unfallstatistiken mich lehrt, dass Flugzeuge auch weiterhin mit Abstand das sicherste Transportmittel sind?[1] Oder ist es die intuitive Ahnung einer realen Gefahr? Intuitiv zögere ich, weil ich eine verräterische Geste meines Verhandlungspartners unterschwellig wahrnehme oder die erschreckenden Berichte zum letzten Flugzeugabsturz erinnere. Mitunter spüre ich nur das Ergebnis der Verarbeitung solcher Informationen – ein Unbehagen, das mich zögern lässt - , kann mir jedoch nicht erklären, woher es rührt. Markus Meier, ein in München lehrender Professor für Psychologie, vertritt die These, dass unser Geist auch auf quantenphysikalischer Ebene Informationen verarbeitet und so unter bestimmten Umständen zukünftige Ereignisse erahnen kann – insbesondere, wenn sie lebensbedrohlich sind. [2]

Intuition warnt nicht nur vor Gefahren - sie wirkt auch schöpferisch. Albert Einstein schrieb einmal: "Der Verstand spielt auf dem Weg der Entdeckung nur eine untergeordnete Rolle. Es findet ein Sprung im Bewusstsein statt, nennen Sie es Intuition oder was Sie wollen, und die Lösung kommt zu Ihnen und Sie wissen nicht wie und warum." Douglas Hofstadter, amerikanischer Professor für Kognitionswissenschaften, sagt in einem Interview anlässlich seines neuen Buches "Analogie, das Herz des Denkens": "Vermutlich wollen wir unser Denken einfach gern als rigoros und unerschütterlich betrachten. Als etwas, das uns von Wahrheit zu Wahrheit führt. Deshalb wird die Mathematik als Terrain puren Denkens schlechthin betrachtet. Tatsächlich aber lassen sich auch Mathematiker von vagen Intuitionen und Einsichten leiten. Erst hinterher rechtfertigen sie dann ihr Tun und füllen all die Lücken. In dem Artikel, den sie am Ende veröffentlichen, lassen sie all die intuitiven Schritte, die sie zum Ziel geführt haben, weg. Und die Leute, die diesen Artikel lesen, verwechseln seinen Inhalt mit dem, was tatsächlich mathematisches Denken ist."[3] Otto Scharmer hat mit seiner sogenannten "Theorie U" den Weg zu dieser schöpferischen Quelle der Intuition für Gruppen und Organisationen, die sich von der Zukunft inspirieren lassen wollen, anschaulich beschrieben [4][5]. Sein Modell habe ich in einem früheren Essay beschrieben: Auf der Suche nach dem verlorenen "Wozu" .

Wissenschaftliche Studien mit Patienten, die einen Schlaganfall entweder in der linken oder in der rechten Gehirnhälfte hatten, sprechen dafür, dass intuitives Denken und Handeln im Wesentlichen durch unsere rechte Gehirnhälfte gesteuert wird – zu diesem Schluss kommt Iain McGilchrist, ein Psychiater, Neurologe und ehemaliger Professor für englische Literatur an der University of Oxford. Er geht in seinem viel beachteten Buch "The Master and his Emissary"[6] der Frage nach, zu welchem Zweck das menschliche Gehirn (und das der Säugetiere, Vögel und Reptilien) aus zwei Hemisphären besteht, die bei genauerer Untersuchung sowohl physiologische als auch funktionale Unterschiede aufweisen.

Für die Beantwortung dieser Frage verknüpft Iain McGilchrist die Ergebnisse zahlreicher Studien zu einer Theorie, der zufolge durch die Teilung des Gehirns zwei unterschiedliche Formen der Aufmerksamkeit möglich werden. Der Vogel sieht und pickt das Korn. Und gleichzeitig muss er empfänglich bleiben für mögliche Gefahren und Gelegenheiten, zum Beispiel für die Katze und den Wurm. Die eine Form der Aufmerksamkeit ist fokussiert, einem Lichtstrahl gleich, mit der wir uns konzentriert einem Objekt zuwenden, um dieses zu (be-)greifen und etwas damit zu tun: Ich nehme den Hammer und schlage einen Nagel in die Wand. Darauf ist die linke Hemisphäre spezialisiert. Sie ist die Zeichnerin unserer mentalen Landkarten, mit denen wir die hineinflutenden Informationsströme unserer Sinne sortieren, filtern, in handhabbare Begriffe bündeln und unser Handeln wirkungsvoll machen. Dank dieser Gabe wissen wir blitzschnell, woran wir sind und was wir tun können: Ich betrachte ein grosses kugelförmiges Objekt mit rotgelbgrünen Schattierungen und einem süsslichen Duft und weiss sofort: Das ist ein Apfel, den kann ich essen oder zu Kompott verarbeiten. Das weiss ein Neugeborenes noch nicht. Es staunt angesichts dieser rätselhaften Erscheinung.

Die Kunst der Begriffsbildung oder Re-präsentation hat jedoch auch ihre Schattenseiten: ich schaue nicht mehr so genau – ich bin ja schon im Bilde - und bin weniger "präsent". Die Gabe der Präsenz – die zweite Form der Aufmerksamkeit - verdanken wir vielmehr der rechten Hemisphäre. Sie nimmt das Einzigartige wahr. Kategorisierung ist ihr fremd. Ein Mensch, ein Baum, oder ein Hammer wird nicht auf seinen Nutzen reduziert ("Baum: Brennholz", "Mensch: Kunde", "Werkzeug, um Nägel einzuschlagen"), sondern wird um seiner selbst willen wahrgenommen. "Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose" hat in diesem Sinne Gertrude Stein gedichtet. Diese zweite Form der Aufmerksamkeit ist weit und ungerichtet, empfangsbereit und schwebend, mit allen Sinnen wach, gefächerten Antennen gleich. Dank ihr bleiben wir für das Unbekannte und Unerwartete empfänglich. Diese zweite Aufmerksamkeit konzentriert sich nicht auf das einzelne Element, sondern erfasst das Beziehungsgefüge der Elemente, eingebettet in ihr Umfeld: Nicht der Klang einer einzelnen Note wird wahrgenommen, sondern die Melodie im Raum. Statt Objekte aus dem Kontext ihrer Erscheinung herauszulösen und als Ding an sich zu behandeln, wird das Einzigartige im Kontext belassen und darin erfahren. Doch wozu noch die Maserung des Holzschafts und die Kratzer auf der metallenen Oberfläche des Hammers wahrnehmen? Genau so fragt der rationale Geist: Wozu ist das nützlich? Das fragt der intuitive Geist nicht. Er nimmt einfach auf und staunt. Und weil er nicht filtert, sondern spielerisch erkundet und findet, geleitet durch Neugier und Leidenschaft, kann Neues entstehen – der Nährboden für schöpferisches Wirken.

Beide Gaben – präsentes, für die Einzigartigkeit offenes, zweckfreies Wahrnehmen auf der einen Seite und verallgemeinerndes, zweckgerichtetes Kategorisieren auf der anderen Seite – sind für unser Überleben notwendig und entfalten auch ihr schöpferisches Potential erst im Zusammenspiel: Ein Künstler wie Paul Gauguin nahm seine Welt mit frischen Sinnen wahr und erfand eine neue Form des Malens. Isaac Newton sah den Apfel, der vom Baume fiel und anstatt ihn wie gewohnt zu essen, fragte er sich konsequent, welche Kraft den Apfel auf den Boden bringt. Gauguin und Newton waren beide in jenem Augenblick präsent, liessen auf sich wirken, was sie sahen – und schufen neue Re-Präsentationen ihrer Welt. Der eine malte Bilder, der Andere formulierte eine Theorie. Mit frischen Sinnen und handwerklichem Können bringen wir Neues in die Welt.
 

Iain McGilchrist ist überzeugt, dass die Teilung des Gehirns in zwei Hälften die unterschiedliche Spezialisierung der beiden Hemisphären widerspiegelt. Ob diese strukturelle Teilung des Gehirns tatsächlich auf die Entwicklung zweier Formen der Aufmerksamkeit zurückzuführen ist, ist trotz jahrzehntelanger Forschung bis heute keineswegs hinreichend geklärt[7]. Dieser Punkt ist jedoch für mich gar nicht entscheidend, denn nicht die Aufteilung in zwei Hemisphären, sondern die Unterscheidung zwischen zwei Formen der Aufmerksamkeit ist für ein Verständnis des Phänomens "Intuition" zentral: Iain McGilchrist glaubt nachweisen zu können, dass das Zusammenspiel der beiden Gehirnhälften und somit die Balance zwischen Wahrnehmen des Einzigartigen ("Präsentieren") versus begrifflichem verallgemeinerndem Denken ("Re-präsentieren") im Laufe unserer Kulturgeschichte unterschiedlich war. Wir leben heute in einer Zeit, in der die analytische und zweckorientierte linke Hemisphäre die rechte Hemisphäre gefährlich stark dominiert. Seine These entspricht jenem Zitat von Albert Einstein, das ich diesem Text vorangestellt habe: "Der intuitive Geist ist ein Geschenk und der rationale Geist ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat."

Das Problem ist keineswegs der rationale Geist an sich, sondern die Umkehrung der Verhältnisse: Lasse ich meinen rationalen Geist dominieren und so mein analytisches, logisch schlussfolgerndes Denken nicht mehr aus dem Reichtum meiner intuitiven Wahrnehmung schöpfen, verliere ich den Kontakt zum unbegreiflich Lebendigen, in das ich hineingeboren bin, das mich trägt, durch das ich bin. Statt dessen irre ich nur noch im Spiegelkabinett meiner eigenen Vorstellungen und festgefügten Meinungen herum. Für den rationalen Geist, der sich zum Meister erhebt, ist die Welt nur ein Raum mit Materie, deren Gesetze er erforscht, um sie entsprechend seiner Bedürfnisse zu gestalten. So wird die Welt zugerichtet. Rationales, zweckorientiertes Denken - an sich ein wunderbares Werkzeug – wird gefährlich, wenn es intuitives Denken und Fühlen nicht mehr gelten und sich davon leiten lässt.

Es geht um ein ausgewogenes Zusammenspiel von Rationalität und Intuition. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die bahnbrechende Forschungsarbeit der Biologin Jennifer Doudna auf dem Gebiet der Gentechnologie, die im Jahre 2014 ein neues, revolutionär einfaches Verfahren für die Manipulation von Genen entwickelt hat. Neben den nicht zu unterschätzenden Gefahren birgt ihr Verfahren auch ein unschätzbares Potential – zum Beispiel für die Behandlung seltener Erbkrankheiten. Ohne Intuition hätte sie mit dem Werkzeug ihres rationalen Geistes diese wissenschaftliche Leistung nicht vollbringen können. Darauf weist einer ihrer ehemaligen Mentoren hin: "Sie war von Anfang an eine sehr fähige Wissenschaftlerin. Sie hat einfach ein unglaubliches Gespür (!) für Entdeckungen" [8]. Trotz ihrer ungebrochenen Leidenschaft für die Forschung kämpft Jennifer Doudna nun ebenso leidenschaftlich für einen ethischen Umgang mit diesen neuen Werkzeugen, die derzeit die Gentechnologie revolutionieren – für mich ein Zeichen, dass sie sich mit ihren Fähigkeiten in den Dienst des Lebens stellt. Und dennoch: Ist nun ihre Intuition, von der sie sich bei ihrer Forschung zweifelsohne hat leiten lassen, wegen des grossen Gefahrenpotentials, das ihre Forschung mit sich bringt, deshalb falsch? So wie die intuitiven Eingebungen, die Einstein hatte, der mit seiner Relativitätstheorie den Weg für die Entwicklung der Atombombe bereitete?

Wenn ich mich nicht auf analytisches, rational schlussfolgerndes Denken beschränke, sondern mir erlaube, das Lebendige in seiner so einzigartigen wie vielfältigen Weise zu erfahren, wenn ich mich auch dem öffne, was nicht auf meinen Landkarten verzeichnet ist, nähere ich mich den Quellen schöpferischer Intuition. Ob sie dann nach meinem Geschmack sprudeln oder mich etwas spüren und erfahren lassen, das so gar nicht zu meinen Plänen oder Werten passt, habe ich nicht im Griff. Das anzuerkennen ist für mich der Preis – so zum Beispiel, wenn in einem Seminar, das ich leite, mein Konzept so schön durchdacht ist, und dann kommt eine unerwartet ablehnende Reaktion der Teilnehmer, die mich vor eine Entscheidung stellt: Lasse ich den Plan fallen oder die Teilnehmer im Stich? Mache ich einen Machtkampf daraus, oder höre ich zu, erkundige mich und lasse mich überraschen, was sich daraus an Neuem ergibt? Wenn ich meinen Standpunkt blind verteidige, habe ich vielleicht vergessen, dass es nur eine von mir geschaffene Konstruktion ist und glaube, es sei ein zutreffendes Abbild - eine gültige Repräsentation - der Wirklichkeit. Wenn ich hingegen auch zuhöre, hinschaue und den anderen auf mich wirken lasse, - bereit, mein vorläufiges Bild der Wirklichkeit zu korrigieren, sofern es gute Gründe gibt - bin ich präsent in der Welt: ich nehme teil und teile mich mit. Ich bleibe lebendig.

Intuition teilt sich vielfältig mit: über Empfindungen, Bilder, Träume, Gefühle, Handlungsimpulse oder eine überraschende Idee - häufig so leise und fein, dass ihre Botschaften im Getöse vielbeschäftigten Tuns leicht untergehen. Intuition führt mich auf unbekannte Wege, durchaus fehlbar und doch unverzichtbar. Für diese innere Stimme – nicht wissend, woher sie klingt - empfänglich zu bleiben und mich in der Deutungskunst des Mitgeteilten zu üben, ist für mich wesentlich, um im Sinne meiner Werte bewusst zu leben.

Damals in der Werkhalle am Förderband entschied ich mich intuitiv, trotz meines Missgeschicks meine Arbeit fortzusetzen, sobald die Techniker aufgeräumt hatten – ich hätte auch nach Hause gehen können. Man ließ mich und stellte mich sogar im nächsten Jahr wieder ein. Bis heute habe ich das Gefühl, es war eine richtige Entscheidung. Aber was ist das schon: ein Gefühl?

Ingo Heyn, Juni 2015

 



 


 

Literatur 
 

  • Damasio, A.R.: Descartes Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. 2004.
  • Iain McGilchrist, The Master and his Emissary, The Divided Brain and the Making of the Western World. Yale University Press 2009
  • Jaworski, Joseph: Source. The Inner Path of Knowledge Creation. Oakland, 2012.
  • Kahneman, Daniel: Thinking, Fast and Slow. Penguin Books, 2011.
  • Kuhl, Julius: Spirituelle Intelligenz. Glaube zwischen Ich und Selbst. Herder Verlag. 2. Auflage, 2015.


 

 


 

Weblinks 
 

 

 

 Fussnoten 


 

  1. Siehe hierzu zum Beispiel das Interview mit dem Psychologen und Bildungsforscher Gerd Gigerenzer: Menschen sind nicht dumm, aber man verdummt sie
     
  2. In seinen Experimenten hierzu hat Markus Meier statistisch signifikante Daten gewonnen, die seine These stützen. Markus Meier: feeling the future again
     
  3. Der Spiegel, Ausgabe 18/2014
     
  4. Scharmer, C. Otto: Theorie U - Von der Zukunft her führen - Presencing als soziale Technik, Carl-Auer Verlag, 2009
     
  5. Senge, P; Scharmer, O.; Jaworsky, J.; Flowers, B.; Presence - Exploring profound Change in People, Organizations and Society,Nicholas Brealey Publishing, London, 2008
     
  6. Iain McGilchrist, The Master and his Emissary, The Divided Brain and the Making of the Western World. Yale University Press 2009
     
  7. Unser Gehirn ist mit seinen nahezu 20 Mrd. Nervenzellen eines der komplexesten Organe überhaupt und angesichts der Tatsache, dass unser Gehirn ein Meisterwerk der Vernetzung ist, wäre es fahrlässig zu behaupten, Strukturen des Gehirns und Funktionen unseres Bewusstseins liessen sich so einfach eins zu eins zuordnen. Solche Versuche hat es vor allem in der Anfangszeit der Neurowissenschaften gegeben - bis man mit fortschreitenden Erkenntnissen feststellte, dass es so einfach nicht ist. Darauf weist auch Iain McGilchrist explizit hin und ist dennoch überzeugt, dass viele Studien - zum Beispiel jene, die typische Ausfallerscheinungen nach Schlaganfällen in der rechten oder linken Hemisphäre erforscht haben - starke Indizien dafür liefern, dass es hinsichtlich der beiden Formen der Aufmerksamkeit einen klaren Trend zur Spezialisierung der beiden Hemisphären gibt.
     
  8. Thomas Cech, Professor für Biochemie und Nobelpreisträger, zitiert aus einem New York Times-Artikel über Jennifer Doudna: crispr-cas9-genetic-engineering.hmtl